Die Generalanwaltschaft des Europäischen Gerichtshof (EuGH) hat heute (30.4.2020) in einem Schlussantrag relevante Rechtseinschätzungen zum Dieselskandal veröffentlicht. Demnach wertet Generalanwältin Eleanor Sharpston die Abschalteinrichtungen in VW-Fahrzeugen mit dem Motor vom Typ EA 189 als illegal, was zu erwarten war. Von besonderer Bedeutung ist, dass sie auch alle anderen Abschalteinrichtungen als unzuzlässig einstuft, sofern der Schadstoffausstoß dadurch im Normalbetrieb über den vorgeschriebenen Grenzwerten liegt bzw. wenn es im Realbetrieb zu einem höheren Abgasausstoß kommt als auf dem Prüfstand.
Dies gilt demnach auch für die Nutzung sogenannter Thermofenster. Hinter dieser Begrifflichkeit steckt eine Abschalteinrichtung, welche die Abgasreinigung herunterfährt, sobald sich die Außentemperatur außerhalb eines gewissen Temperaturfensters befindet. Demnach halten betroffene Fahrzeuge die vorgeschriebenen EU-Umwelrichtlinien nur bei Temperaturen zwischen ungefähr 15 und 30 Grad ein. In Deutschland werden diese Grenzwerte in nahezu jedem Monat im Schnitt unter- oder überschritten.
Zahlreiche Autobauer – darunter BMW, Mercedes-Benz und Volvo – nutzen diese Thermofenster. Tests haben zudem ergeben, dass auch die manipulierten VW-Dieselfahrzeuge nach der Durchführung des verpflichtenden Software-Updates nur bei bestimmten Temperaturen tatsächlich sauber sind. Die jeweiligen Hersteller begründeten die Verwendung von Thermofenstern in der Regel mit dem Schutz der jeweiligen Motoren.
Dieser Auffassung widerspricht die EuGH-Generalanwaltschaft nun. So seien Abschalteinrichtungen nur dann zu rechtfertigen, wenn unmittelbare Beschädigungsrisiken, die die Zuverlässigkeit des Motors beinträchtigen und eine konkrete Gefahr bei der Lenkung des Fahrzeugs darstellen, vorhanden sind. Im Normalfall schützen Thermofenster jedoch lediglich vor dem Verschleiß oder der Verschmutzung des jeweiligen Motors. Die Generalanwältin Sharpston wies jedoch auch darauf hin, dass diese Ausnahmen eng auszulegen seien.
Experten des deutschen Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA) und der nach dem VW-Abgasskandal eingesetzten Untersuchungskommission sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die gesetzlich mögliche Ausnahme von der Abgasreinigung von allen deutschen Herstellern exzessiv genutzt wird, über Thermofenster.
Sollte der EuGH dem Schlussantrag der Generalanwältin Eleanor Sharpston folgen und diese Ausnahme vom generellen Verbot kippen, könnte das ein Beben in der Automobilindustrie auslösen. Dann käme es unweigerlich zu einem Abgasskandal 2.0, von dem dann alle Hersteller betroffen sein dürften.
Dadurch nimmt der Dieselskandal komplett neue Ausmaße an. Allein in Deutschland sind mehrere Millionen Fahrzeuge mit eingebauten Thermofenstern oder anderen Abschalteinrichtungen zugelassen. Der gesamten Automobilindustrie drohen nun Rückrufs- und -Klagewellen sowie Strafen in Milliardenhöhe.
Zwar ist ein Schlussantrag durch die Generalanwaltschaft kein rechtsgültiges Urteil, doch in der Regel folgen die Richter des EuGH dieser Rechtseinschätzung.
Ein Urteil veröffentlicht der Europäische Gerichtshof üblicherweise in einem Zeitraum von drei bis sechs Monaten nach dem Schlussantrag der Generalanwaltschaft. Vermutlich wird es vorliegend schneller gehen.